14.11.2011

Er ist ja der Paketbote

Sanchos Esel:

Ich trug meine Beschwerde vor, erwähnte, wir seien zu Hause gewesen, als der Paketbote klingelte, und sah die Postdame freundlich nicken.
Das sei zweierlei, sagte sie.
»Was ist zweierlei?«
»Was hier auf der Benachrichtigung steht und was dann in Wirklichkeit geschieht.«
Das ist Kafka, dachte ich im Stillen, sagte dann aber: »Sie wollen mir sagen, der Paketbote schreibt hin, er sei dagewesen, wenn er gar nicht da war?«
»Nein«, sagte die Dame. »So ist es auch wieder nicht. Der Paketbote war da, hat aber nicht auf Ihre Klingel gedrückt. Er hat nur die Benachrichtigung in Ihren Briefkasten geworfen.«
»Und das Paket«, sagte ich. »Glauben Sie, er hatte es bei sich?«
»Ja, die kommen mit dem kleinen Lieferwagen. Die haben alle Pakete bei sich.«
»Aber warum liefert er es dann nicht ab?«
»Weil es ihn zuviel Zeit kostet. Es sind sehr viele Pakete.«
»Und warum fährt er alle diese Pakete durch Madrid, wenn er keines von ihnen abliefert?«
»Er muss. Er ist ja der Paketbote. Stellen Sie sich vor, der Paketbote hätte keine Pakete bei sich.«

Aus: Die Briefmarke oder Was haben Sie mit meinem schlechten Karma zu tun?

30.10.2011

Hörbefehl

Sie können mit ökonomischen Argumenten über Griechenland heute so reden, wie man in Deutschland seit 40 oder 50 Jahren nie über ein anderes Land mehr geredet hat. Plötzlich geht das. Und viele hängen sich da ran. Ein Land, in dem wir ja gehaust haben bekanntlich wie sonstwas – plötzlich kann man sagen, sind faul, äh, unfähig und so weiter. Das war eigentlich tabuisiert. Und diese Tatsache, daß man über Ökonomie – wenn jetzt auch noch Inflation kommt – plötzlich Dinge sagen kann; jetzt denken Sie an die Europadebatte, Nationalstaatsdebatte, wir wollen wieder ... – Henkel ist ja nichts anderes als im Grunde die Rückkehr, er sagt zwar Nord-Euro, aber das ist ein natio- ... kann man auch als nationalistisches Argument sehen. Und über diese ökonomische Schiene, glaube ich – da muß man auch sehr aufmerksam sein – werden Dinge, die eigentlich für undenkbar schienen, womöglich zurückkommen. Das heißt, es wird keine Partei sein, so etwas, die daher kommt und sagt »Ausländer raus« und so, das wird's gar nicht sein.

[Sarrazin] ist ja auch ökonomisch, das isses ja, biologistisch und ökonomisch, das ist ja etwas, was immer übersehen wird, daß das eine ... darum ist es ja auch so bedenklich. Darum haben wir's ja auch so attackiert. Der nimmt zwei ganz neutr-, anscheinend neutrale Strukturen. Das eine ist der Biologismus, und das andere ist ja die Ökonomie, dieses ganze Gerede von »die sind nur Gemüsehändler« und so weiter und so fort. Und das beides könnte sich ... das wirkt ja dann so rational. [...] Es hat dann plötzlich einen total objektiven Anschein. Und diese neue Form des Positivismus ist deshalb so gefährlich, weil, wie wir ja vorhin besprochen haben, die anderen Gewißheiten ja ruiniert sind. Niemand glaubt mehr einem Banker, wenn der jetzt sagt »Wenn ich die und die Zinsen ... und das Derivat und diese ...«. Das heißt, hier ist auch ein Bedarf da, und darum empfehle ich nur jedem, genau aufzupassen, wie sich so ein neues vulgärwissenschaftliches Weltbild womöglich auch parteipolitisch manifestiert. Der Henkel ist dafür schon ein grandioses Beispiel. Und Sarazzin ist von der anderen Seite das andere Beispiel.


Endlich in Ruhe angehört – dringende Nachahmung empfohlen:

»Alternativlos 20«

... mit Gesprächsgast Frank Schirrmacher über den politischen Diskurs, und wie er sich verändert hat und sich heute verändert. Über Herbert Wehner und Franz Josef Strauß und Rhetorik und Darstellung und Begriffe und das Digitale in der Demokratie und das Demokratische im Digitalen und Guttenberg und sogenannten Klartext und und und. Und Sabine Christiansen.

Wenn man Frank Schirrmacher so in Gesprächen hört oder sieht, fragt man sich, warum der in manchen Kommentarspalten immer so abgetan wird. Ach, der Schirrmacher schon wieder.

Der Mann ist schon sehr gut informiert, worüber er spricht, außerdem hört er zu und geht auf Gesagtes ein. Das wirkt alles nicht so vorgestanzt und wie tausendmal erzählte Phrasen, sondern sehr aufmerksam und engagiert. Da fängt im Eifer ... oft fangen Sätze zwei- oder dreimal an und schaffen es nicht immer bis zum – weil auch lauter spontane Einschübe drin sind, wo man sozusagen beim Denken zuhören kann – äh, bis zum Ende, weil schon der nächste Gedanke ... Und das, ohne wirr zu sein.

Anhören!

24.09.2011

Worte der Woche

»Es geht nicht darum, daß wir zu einem Überwachungsstaat werden, sondern lediglich darum, zu speichern, wer wann mit wem und wo telefoniert hat.«

(Die CDU-Abgeordnete Mechthild Ross-Luttmann im niedersächsischen Landtag zur Vorratsdatenspeicherung. Gefunden in der U-Bahn.)

11.09.2011

Es sind genug Türme für alle da!

(A person is holding up a pointer to a screen with an image of the World Trade Center towers mid-disaster.) Person: Based on my analysis, I believe the government faked the plane crash and demolished the WTC north tower with explosives. The south tower, in a simultaneous but unrelated plot, was brought down by actual terrorists. - The 9/11 truthers responded poorly to my compromise theory.

Von: xkcd

07.09.2011

Auge, mein Auge

Maradona oder Platini? Zico oder Rummenigge? Die Antwort lautet: Klaus. Eine Beweisführung

von Magnus Jermiah

Es mißt ungefähr 80 x 45 cm und befindet sich seit über 25 Jahren in meinem Besitz, beim erst kürzlich erfolgten Umzug habe ich es in einer Ecke des Kellers wieder zu Gesicht bekommen. Wie viele Male hatte ich in internetloser Vorzeit wohl gerätselt, welche Rückennummer mein sich auf diesem Poster mit deutlich zu hoch gestrecktem Bein im Zweikampf mit einem schottischen Gegenspieler befindendes Idol wohl getragen hatte. Es ist eine Momentaufnahme des zweiten Gruppenspiels der WM 86, bei der allein die »deutschen Tugenden« einer in überheblicher Art nie aufgebenden, talentlos malochenden Mannschaft für die spätere Endspielteilnahme sorgten.

Ein Poster, ein Werbegeschenk aus dem Schuhgeschäft und mir so ganz nebenbei an Weihnachten 1986 zugeflogen, sollte aber alle anderen Weihnachtsgeschenke des Zehnjährigen an Haltbarkeit und gedanklichem Gebrauchswert um Längen übertrumpfen. Allerdings war das Foto aus einer Perspektive aufgenommen, aus der weder die im Vergleich zum Vereinstrikot veränderte Rückennummer noch deren damals nur bei internationalen Turnieren übliche, auf der aus heutiger Sicht lächerlich engen Sporthose prangende Entsprechung sichtbar waren. Dieses Poster hing bis weit in die Pubertät hinein am Kopfende meines Bettes und sorgte somit für allerlei zahlenfreudige Überlegungen. Denn ER war darauf abgebildet, der Inbegriff meiner fußballerischen Ziele, die schuß- und befehlsgewaltig meckernde Coolness, Souveränität und Übersicht in Person, dessen in Liga und Europapokal getragene Nummer 5 untrennbar mit der Kapitänsbinde des geliebten FC Bayern verbunden war: Klaus Augenthaler.

Ich hatte mich als Fünfjähriger entscheiden müssen, da die Kindergartenclique dies verlangte: Bayern oder HSV. Die Wahl fiel auch in der üdniedersächsischen Diaspora nicht schwer, denn der große Bruder meines besten Freundes hätte mich sonst nur noch mit Verachtung gestraft. Ich kannte Breitner und Rummenigge aus Gesprächen meiner Nachbarn, und rot war sowieso die viel schönere Farbe der Pudelmütze als das kalte Blau-Schwarz der Hamburger. Mehr wußte ich nicht über die Hauptdarsteller des Sports, für den mich, abgesehen von einigen Unterbrechungen, eine große Leidenschaft gefangen hält, die momentan gar wieder im Wachstum begriffen ist, seit ich das Territorium der Hobbyligen aktiv entdeckt habe.

Ich verblieb in relativer Unkenntnis, bis ich eines Abends die Erlaubnis erlangte, das Halbfinalspiel meiner mir weitgehend unbekannten Bayern im Europapokal der Pokalsieger 1985 gegen den FC Everton (mit dem mir ebenfalls unvergeßlichen, per Dropkick aus der offenen Handfläche abschlagenden, leicht buckligen Haudegen Neville Southall im Tor!) anzuschauen. Da sah ich ihn zum ersten Mal volle 90 Minuten lang spielen. Bayern spielte schlecht, war trotz Führung durch Dieter Hoeneß unterlegen und schied schließlich sang- und klanglos mit 1:3 aus, aber die Mangelhaftigkeit bayerischer Leistung bemerkte ich nicht, denn meine Konzentration war nur auf ihn gerichtet, dessen Namen ich mir zugegebenermaßen am leichtesten merken konnte, der aber auch sonst alle Insignien uneingeschränkter Wichtigkeit mit sich trug und somit nur jenseits aller Kritik stehen konnte. Er war Libero und Kapitän in einer Person, führte sämtliche Freistöße in der eigenen Hälfte und zuweilen auch die weiter vorn aus, dirigierte, grätschte, schoß, köpfte, spielte ewig lange Pässe und wagte ab und an sogar eine uns Kinderkickern strengstens verbotene Fummelei im Mittelfeld. Er schien einfach alles zu können, wußte immer, was zu tun war und war wohl deshalb zum Anführer, zum Kapitän, zum Inhaber der für mich wichtigsten Position, der des Abwehrchefs, bestimmt. So wollte ich sein und nicht anders!

Ich als 8-jähriger E-jugendlicher Fußballanfänger, der mangels ausreichender Zahl an Dorfkindern in der D-Jugend seine Karriere begann, habe aufgeschaut zu Holger, unserem Libero und Kapitän, dem mir als Rechtsverteidiger direkt Vorgesetzten, der zu allem Überfluß noch regelmäßig für die Kreisauswahl nominiert wurde (eine Kombination, deren Verwirklichung mir wenige Jahre später auch gelingen sollte und die heute noch dafür sorgt, daß ich mich auf manchen Bolzplätzen, wenn auch de facto vollstens unbegründet, irgendwie »überlegen« fühle).

Klaus und Holger zogen sich die Kapitänsbinde über den linken Arm, beide durften mit dem Schiri die Seitenwahl vornehmen, beide schrien Anweisungen über die komplette Länge des Spielfeldes, beide bolzten die Dinger hinten raus, wenn Andere versagt hatten, beide gingen zeitweilig nach vorn, um den entscheidenden Paß zu spielen oder höchstselbst mit unhaltbar hartem Schuß ein dringend benötigtes Tor zu erzielen.

Maradona, Platini, Zico oder Rummenigge? Uninteressant, denn ihr Dasein beschränkte sich lediglich auf das Setzen weniger vereinzelter Glanzpunkte in des Gegners Hälfte. Augenthaler, der das ganze Spielfeld zu überblicken und zu ordnen hatte, der zu beschäftigt und gleichzeitig – im Gegensatz zu meiner kickenden Person – zu souverän war, um solch eine Profanität wie einen Elfmeter etwa eigenfüßig auszuführen, war der Beste, aber warum zum Teufel schien das außer mir niemand zu bemerken? Meine Mannschaftskollegen hatten ihre Vorbilder in der Offensive, mein HSV-affiner Trainer lachte über seinen Namen, und meine Mutter befand ihn für häßlich. Ganz Norddeutschland verachtete ihn für sein übles Foul an Rudi Völler, und das Fernsehen bemerkte ständig, wie weit seine Leistungen doch entfernt seien von jenen vergangenen des Kaisers Franz, daß dessen lange gesuchter Nachfolger als Libero somit wohl eher in Matthias Herget als in meinem Idol zu sehen sei (und dies aus heutiger Sicht nicht zu Unrecht!).

Diese für mich damals offensichtlichen Fehlbewertungen und einige Verletzungen lassen in seiner Nationalmannschafts-Statistik nur die seiner Erscheinung völlig unangemessene Zahl von 27 Länderspielen auftauchen, zwischen denen immer wieder und teils mehrjährige Risse der Nichtberücksichtigung klaffen. Aber es war Auge, der stets am Ende der Saison die Meisterschale abholen durfte, es war Auge, der das Tor des Jahrzehnts fast aus der eigenen Hälfte heraus erzielte, es war Auge, der schließlich, von mir nach langer Durststrecke nicht mehr erwartet, für die WM 1990 als Libero aufgestellt wurde und dessen technisch ungelenkes Auftauchen im maradonargentinischen Sechzehner im Finale von Rom mit einem ungeahndeten Foul an ihm endete, das im Grunde für den späteren siegbringenden Brehme-Konzessions-Elfmeter nach völlerscher Schwalbe sorgte.

Ich war 13 und Auge war Weltmeister! Ich war fassungslos. Eine einsame Art von Freude, Genugtuung. Endlich hatte er die ganz große Anerkennung, die ihm meiner Meinung nach immer vorenthalten worden war (wenngleich er diese laut eigener Aussage hätte missen müssen, so denn Beckenbauer die aus Nervosität in der Nacht vor dem Endspiel geleerte Schachtel Marlboro auf Klaus' Hotelbalkon zu Gesicht bekommen hätte...).

Viel zu früh mußte er kurz darauf seine Karriere mit 33 Jahren verletzungsbedingt beenden, wurde Co-Trainer und tätigte in den Folgejahren als Bundesligacoach mit starrer Miene bisweilen launische Aussagen wie »Dreierkette, Viererkette? Heute hätten wir mit Schneekette spielen können, wir hätten auch verloren.«. Nach ihm gab es für mich kein fußballerisches Vorbild mehr, und anders als bei Holger und Klaus weist meine Karriere im Herrenbereich erhebliche zeitliche Lücken auf, so daß ich den kompletten Verlust der Spielidee »Libero« manchmal immer noch nicht verkraftet zu haben scheine. Aber im Netz war es leicht zu finden: Bei der WM 86 trug er die 15. Weltmeister aber wurde er vier Jahre später, natürlich – mit der 5 auf dem Rücken.


Die geäußerten Vereinsvorlieben spiegeln nicht zwingend die Meinung der Redaktion wider. So möchten wir es mal umschreiben.

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