07.09.2011

Auge, mein Auge

Maradona oder Platini? Zico oder Rummenigge? Die Antwort lautet: Klaus. Eine Beweisführung

von Magnus Jermiah

Es mißt ungefähr 80 x 45 cm und befindet sich seit über 25 Jahren in meinem Besitz, beim erst kürzlich erfolgten Umzug habe ich es in einer Ecke des Kellers wieder zu Gesicht bekommen. Wie viele Male hatte ich in internetloser Vorzeit wohl gerätselt, welche Rückennummer mein sich auf diesem Poster mit deutlich zu hoch gestrecktem Bein im Zweikampf mit einem schottischen Gegenspieler befindendes Idol wohl getragen hatte. Es ist eine Momentaufnahme des zweiten Gruppenspiels der WM 86, bei der allein die »deutschen Tugenden« einer in überheblicher Art nie aufgebenden, talentlos malochenden Mannschaft für die spätere Endspielteilnahme sorgten.

Ein Poster, ein Werbegeschenk aus dem Schuhgeschäft und mir so ganz nebenbei an Weihnachten 1986 zugeflogen, sollte aber alle anderen Weihnachtsgeschenke des Zehnjährigen an Haltbarkeit und gedanklichem Gebrauchswert um Längen übertrumpfen. Allerdings war das Foto aus einer Perspektive aufgenommen, aus der weder die im Vergleich zum Vereinstrikot veränderte Rückennummer noch deren damals nur bei internationalen Turnieren übliche, auf der aus heutiger Sicht lächerlich engen Sporthose prangende Entsprechung sichtbar waren. Dieses Poster hing bis weit in die Pubertät hinein am Kopfende meines Bettes und sorgte somit für allerlei zahlenfreudige Überlegungen. Denn ER war darauf abgebildet, der Inbegriff meiner fußballerischen Ziele, die schuß- und befehlsgewaltig meckernde Coolness, Souveränität und Übersicht in Person, dessen in Liga und Europapokal getragene Nummer 5 untrennbar mit der Kapitänsbinde des geliebten FC Bayern verbunden war: Klaus Augenthaler.

Ich hatte mich als Fünfjähriger entscheiden müssen, da die Kindergartenclique dies verlangte: Bayern oder HSV. Die Wahl fiel auch in der üdniedersächsischen Diaspora nicht schwer, denn der große Bruder meines besten Freundes hätte mich sonst nur noch mit Verachtung gestraft. Ich kannte Breitner und Rummenigge aus Gesprächen meiner Nachbarn, und rot war sowieso die viel schönere Farbe der Pudelmütze als das kalte Blau-Schwarz der Hamburger. Mehr wußte ich nicht über die Hauptdarsteller des Sports, für den mich, abgesehen von einigen Unterbrechungen, eine große Leidenschaft gefangen hält, die momentan gar wieder im Wachstum begriffen ist, seit ich das Territorium der Hobbyligen aktiv entdeckt habe.

Ich verblieb in relativer Unkenntnis, bis ich eines Abends die Erlaubnis erlangte, das Halbfinalspiel meiner mir weitgehend unbekannten Bayern im Europapokal der Pokalsieger 1985 gegen den FC Everton (mit dem mir ebenfalls unvergeßlichen, per Dropkick aus der offenen Handfläche abschlagenden, leicht buckligen Haudegen Neville Southall im Tor!) anzuschauen. Da sah ich ihn zum ersten Mal volle 90 Minuten lang spielen. Bayern spielte schlecht, war trotz Führung durch Dieter Hoeneß unterlegen und schied schließlich sang- und klanglos mit 1:3 aus, aber die Mangelhaftigkeit bayerischer Leistung bemerkte ich nicht, denn meine Konzentration war nur auf ihn gerichtet, dessen Namen ich mir zugegebenermaßen am leichtesten merken konnte, der aber auch sonst alle Insignien uneingeschränkter Wichtigkeit mit sich trug und somit nur jenseits aller Kritik stehen konnte. Er war Libero und Kapitän in einer Person, führte sämtliche Freistöße in der eigenen Hälfte und zuweilen auch die weiter vorn aus, dirigierte, grätschte, schoß, köpfte, spielte ewig lange Pässe und wagte ab und an sogar eine uns Kinderkickern strengstens verbotene Fummelei im Mittelfeld. Er schien einfach alles zu können, wußte immer, was zu tun war und war wohl deshalb zum Anführer, zum Kapitän, zum Inhaber der für mich wichtigsten Position, der des Abwehrchefs, bestimmt. So wollte ich sein und nicht anders!

Ich als 8-jähriger E-jugendlicher Fußballanfänger, der mangels ausreichender Zahl an Dorfkindern in der D-Jugend seine Karriere begann, habe aufgeschaut zu Holger, unserem Libero und Kapitän, dem mir als Rechtsverteidiger direkt Vorgesetzten, der zu allem Überfluß noch regelmäßig für die Kreisauswahl nominiert wurde (eine Kombination, deren Verwirklichung mir wenige Jahre später auch gelingen sollte und die heute noch dafür sorgt, daß ich mich auf manchen Bolzplätzen, wenn auch de facto vollstens unbegründet, irgendwie »überlegen« fühle).

Klaus und Holger zogen sich die Kapitänsbinde über den linken Arm, beide durften mit dem Schiri die Seitenwahl vornehmen, beide schrien Anweisungen über die komplette Länge des Spielfeldes, beide bolzten die Dinger hinten raus, wenn Andere versagt hatten, beide gingen zeitweilig nach vorn, um den entscheidenden Paß zu spielen oder höchstselbst mit unhaltbar hartem Schuß ein dringend benötigtes Tor zu erzielen.

Maradona, Platini, Zico oder Rummenigge? Uninteressant, denn ihr Dasein beschränkte sich lediglich auf das Setzen weniger vereinzelter Glanzpunkte in des Gegners Hälfte. Augenthaler, der das ganze Spielfeld zu überblicken und zu ordnen hatte, der zu beschäftigt und gleichzeitig – im Gegensatz zu meiner kickenden Person – zu souverän war, um solch eine Profanität wie einen Elfmeter etwa eigenfüßig auszuführen, war der Beste, aber warum zum Teufel schien das außer mir niemand zu bemerken? Meine Mannschaftskollegen hatten ihre Vorbilder in der Offensive, mein HSV-affiner Trainer lachte über seinen Namen, und meine Mutter befand ihn für häßlich. Ganz Norddeutschland verachtete ihn für sein übles Foul an Rudi Völler, und das Fernsehen bemerkte ständig, wie weit seine Leistungen doch entfernt seien von jenen vergangenen des Kaisers Franz, daß dessen lange gesuchter Nachfolger als Libero somit wohl eher in Matthias Herget als in meinem Idol zu sehen sei (und dies aus heutiger Sicht nicht zu Unrecht!).

Diese für mich damals offensichtlichen Fehlbewertungen und einige Verletzungen lassen in seiner Nationalmannschafts-Statistik nur die seiner Erscheinung völlig unangemessene Zahl von 27 Länderspielen auftauchen, zwischen denen immer wieder und teils mehrjährige Risse der Nichtberücksichtigung klaffen. Aber es war Auge, der stets am Ende der Saison die Meisterschale abholen durfte, es war Auge, der das Tor des Jahrzehnts fast aus der eigenen Hälfte heraus erzielte, es war Auge, der schließlich, von mir nach langer Durststrecke nicht mehr erwartet, für die WM 1990 als Libero aufgestellt wurde und dessen technisch ungelenkes Auftauchen im maradonargentinischen Sechzehner im Finale von Rom mit einem ungeahndeten Foul an ihm endete, das im Grunde für den späteren siegbringenden Brehme-Konzessions-Elfmeter nach völlerscher Schwalbe sorgte.

Ich war 13 und Auge war Weltmeister! Ich war fassungslos. Eine einsame Art von Freude, Genugtuung. Endlich hatte er die ganz große Anerkennung, die ihm meiner Meinung nach immer vorenthalten worden war (wenngleich er diese laut eigener Aussage hätte missen müssen, so denn Beckenbauer die aus Nervosität in der Nacht vor dem Endspiel geleerte Schachtel Marlboro auf Klaus' Hotelbalkon zu Gesicht bekommen hätte...).

Viel zu früh mußte er kurz darauf seine Karriere mit 33 Jahren verletzungsbedingt beenden, wurde Co-Trainer und tätigte in den Folgejahren als Bundesligacoach mit starrer Miene bisweilen launische Aussagen wie »Dreierkette, Viererkette? Heute hätten wir mit Schneekette spielen können, wir hätten auch verloren.«. Nach ihm gab es für mich kein fußballerisches Vorbild mehr, und anders als bei Holger und Klaus weist meine Karriere im Herrenbereich erhebliche zeitliche Lücken auf, so daß ich den kompletten Verlust der Spielidee »Libero« manchmal immer noch nicht verkraftet zu haben scheine. Aber im Netz war es leicht zu finden: Bei der WM 86 trug er die 15. Weltmeister aber wurde er vier Jahre später, natürlich – mit der 5 auf dem Rücken.


Die geäußerten Vereinsvorlieben spiegeln nicht zwingend die Meinung der Redaktion wider. So möchten wir es mal umschreiben.

19.08.2011

Stühle


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18.08.2011

Stühle


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16.08.2011

Stühle


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27.06.2011

Vier

Die Lesetips zum Wochenauftakt


Wie Media Markt seine Kunden hinters Licht führt
Sind die blöd? Alles über den Versuch, ein Werbeangebot wahrzunehmen.

Fast alles über Frauenfußball
[...] Lothar Matthäus, der gern und viel davon erzählt, dass Frauen gegen Männer »körperlich keine Schangse« hätten, lag vor Beginn seiner Karriere seiner Mutter weinend in den Armen, weil man ihm gesagt hatte, dass er zu klein und zu schmächtig sei für den Profifußball. War dann doch nicht so. [...]

Generation Wix
Fast alles über Pornographie. Und Onanie. Und das richtige Leben.
[...] Aber als ich gegen jede Wahrscheinlichkeit meine erste feste Freundin hatte, war ich wahnsinnig irritiert, wie wenig erregt sie durch meine Bemühungen war. Die Frauen in den RTL-Filmen stöhnten bereits ekstatisch, wenn sie selber oder jemand anderes ihre Brüste berührten; meine Freundin ließ sich selbst durch kräftiges Kneten nicht im Geringsten beeindrucken. Das kann das Selbstbewusstsein eines Pubertierenden ganz schön ins Wanken bringen. [...]

Leitwolf im Schafspelz: Über das Spektakuläre an »Spiegel online«
Alles über das Leitmedium. Lest das, und dann sucht Euch endlich eine vernünftige Nachrichtenseite.

28.04.2011

Worte der Woche

»Manchmal ekelt es mich ein wenig an, auf dieser Welt zu leben.«

(Kennt das Gefühl auch: José Mourinho)

16.03.2011

Bye-bye, Bastard?

Felix Magath hat auf Schalke ausgedient, Louis van Gaal beim FC Bayern spätestens am Saisonende. Doch ist die Zeit des autoritären Trainertyps mit dem Abschied der beiden Schleifer tatsächlich schon abgelaufen?


»Hohl ist der Boden unter den Tyrannen, die Tage ihrer Herrschaft sind gezählt.« – Schillers »Tell« scheint wieder sehr modern zu sein, insbesondere in Bundesliga-Vereinsvorständen und Sportredaktionen: Wo früher harte Trainer, Raubeine und Disziplinfanatiker an der Seitenlinie saßen, sind es heute nur noch Despoten, Unterdrücker und Unmenschen.

Jetzt, da mit dem BVB eine von einem umgänglichen, rhetorisch begabten Mann trainierte Mannschaft den deutschen Fußball dominiert, geht es in der restlichen Liga plötzlich zu wie in Afrika: Es ist Diktatoren-Dämmerung. Die unnahbaren Alleinherrscher haben ausgedient, heißt es, eine neue, kommunikative, offene und überhaupt ganz andere Trainergeneration rückt nach; mehr noch: verdrängt die alte.

»Ein Fußball-Verein ist heutzutage keine One-Man-Show. Es ist schwer mit ihm zu reden, weil er die Meinung anderer Leute nicht akzeptiert«, sagte Bayern-Präsident Uli Hoeneß über Louis van Gaal. Der Schalke-Aufsichtsratsvorsitzende Clemens Tönnies möchte den Führungsstil des Trainers Felix Magath nur noch auf folgenden Punkt bringen: »Unmenschlicher Umgang mit den Mitarbeitern und Spielern.«

»Er war ein angsteinflößender Bastard«

Andere finden noch deutlichere Worte. »Er hat uns Angst eingejagt. Ich hatte noch nie vor jemandem Angst, aber er war von Anfang an ein angsteinflößender Bastard. Alles war auf seine Ziele ausgerichtet. Zeit spielte für ihn keine Rolle; er trug nie eine Uhr. Wenn er etwas erledigt haben wollte, blieb er so lange, wie es eben brauchte. Er war bösartig«, sagt ein ehemaliger Spieler.

Ein Führungsstil, der heute an seine Grenzen stößt? Die Spieler sind selbstbewußter, das Medienumfeld ist gieriger, kritischer und kaum mehr steuerbar. Ohne Erfolg kein ruhiges Arbeiten – und dieser Erfolg kann, mit Angst erkauft, kein langfristiger sein, denn nach einer, höchstens zwei Spielzeiten sind die Spieler ausgebrannt, eingeschüchtert oder zumindest maximal angepißt. Kein Personal, mit dem man etwas gewinnt. Das leuchtet jedem ein.

Jedem? Felix Magath offenbar nicht. Einem eigenwilligen Schotten auch nicht. Sein Name ist Alex Ferguson; er ist der angsteinflößende Bastard in obigem Zitat. Es stammt von Bobby McCulley, Spieler unter Ferguson bei dessen ersten Trainerstation beim FC East Stirlingshire.

Seit 1986 ist dieser Bastard der Trainer von Manchester United, seit einem Vierteljahrhundert also inzwischen, und begleitet von teilweise recht schrillen Medien wurde er mit hochbezahlten, an der Grenze zur Arroganz selbstbewußten Stars in der nicht allerschlechtesten Liga der Welt 1993 und 1994 englischer Meister. Und 1996 und 1997. Und 1999, 2000 und 2001. Und dann 2003, und dann in einem weiteren Hattrick 2007, 2008 und 2009. Daneben gab es die FA-Cup-Siege 1990, 1994, 1996, 1999 und 2004, und den Gewinn der Champions League 1999 und 2008. Aktuell ist er Tabellenführer in der Premier League.

Das klingt nicht gerade nach verbrannten Mannschaften, auch nicht danach, daß ein Führungsstil, der sich zwischendurch darin äußerte, einem Spieler den Fußballschuh ins Gesicht zu befördern (Nachfragen an David Beckham), heutzutage nicht mehr zum Erfolg führen kann; man halte davon, was man will.

Geöffnet: Das ganz große Faß

Gewiß sind bei Manchester United allerlei Dinge ganz anders, und die Situation ist nicht direkt mit den deutschen Klubs vergleichbar. Aber ist nicht genau das der Punkt? Daß es eben nicht in erster Linie das Temperament des Trainers ist, was über Wohl und Wehe entscheidet? Sondern eben – allerlei Dinge?

Diktiert für:

Darüber kann man lange diskutieren, nicht jeder Einzelfall läßt Schlüsse für die Allgemeinheit zu, auch der (Erfolgs-)Fall Ferguson nicht. Das gilt für aktuelle Mißerfolgsfälle allerdings genauso. Auch deshalb sollte man zu diesem Zeitpunkt nicht gleich das ganz große Faß aufmachen und wie die »Süddeutsche Zeitung« davon sprechen, daß der moderne Fußball »einige gesellschaftliche Entwicklungen verspätet« nachvollziehe.

Sollte das so sein, dann tut er das bemerkenswert schnell. Erinnern wir uns an folgende Abschlußtabelle: Meister Bayern München vor dem FC Schalke 04 vor Werder Bremen. In Trainern gesprochen: Louis van Gaal vor Felix Magath vor Thomas Schaaf – wobei letzterer zwar kein tyrannischer Schleifer, aber eben auch kein Kloppo von der Weser ist.

Das war nicht im vorigen Jahrhundert. Das war im vorigen Jahr, vor etwa acht Monaten. Und die Zeit wird sicher kommen, wo die Klopps, Tuchels und Slomkas mit ihren Teams im Mittelfeld stagnieren oder möglicherweise sogar am Abstiegsabgrund taumeln, während ein Bastard ganz oben steht.

Wenn man dann nicht wieder nach dem starken Manne ruft – dann ist die gesellschaftliche Entwicklung im Fußball angekommen.


(Text für »11 Freunde«. Dort mit schöner Bilderstrecke der schlimmsten Fußball-Diktatoren.)

10.08.2010

Ein bißchen ernst muß sein

Freitagnachmittag, Hamburger Schanzenpark


»Get back!« Der englische Torhüter brüllt, als ginge es um den FA Cup. Er brüllt schon die ganze Zeit. Keine Spielsituation bleibt unkommentiert, lautstark lobt er gute Aktionen seiner Mitspieler, warnt vor dem nahenden Gegner, manchmal passiert auch gar nichts, dann ruft er »Come on!« oder mahnt an, den Ball am Boden zu halten und flach zu spielen. Er wird keinen groben Schnitzer machen heute, das kann man nicht von jedem Engländer im Tor behaupten, er wird seiner Mannschaft heute sogar den Sieg retten. Dabei ist er eigentlich gar kein Torhüter. Er heißt Andy Parmley und ist Gitarrist der englischen Band Young Rebel Set, die heute ihre Debüt-LP in Deutschland veröffentlicht und zur Feier des Tages gegen ihr deutsches Label Grand Hotel van Cleef (GHvC) den Klassiker Deutschland gegen England nachspielt.

»Das war so 'ne Daffke-Idee, wie man sie halt manchmal hat«, sagt Thees Uhlmann, Tomte-Sänger, GHvC-Mitbegründer und heute die deutsche Zehn. Weil man halt gerne Fußball spielt. Und weil man sich nach der Musik ohnehin gleich über Fußball unterhalten hat, damals, als er Ende 2009 nach England flog, um die Rebels für den deutschen Markt unter Vertrag zu nehmen, keine drei Wochen, nachdem er erstmals von ihnen gehört hatte. Daß sie immerhin zu siebt sind und heute nachmittag nur minimal ergänzt werden müssen, kam der Idee wohl auch zugute; mit den White Stripes würde man sich vielleicht eher zu einem anderen Sport verabreden. Was so großartig an diesen Sieben sei, daß er damals gleich dort und sie nun hier seien? Die »simpel originäre Musik«, sagt Uhlmann, und »daß sie in der großen englische Tradition mit Songs Geschichten erzählen.«

Auf dem Platz gehen sie in einer anderen großen Insel-Tradition »auch englische-Härte-mäßig in die Vollen« (Halbzeit-Analyse Uhlmann), überraschen daneben aber mit technischen Fähigkeiten und sind für eine Band, die man vor etwa zwei Stunden aus dem Bett geklingelt hat, verblüffend laufbereit. Und nach einem sehenswerten Angriff über die rechte Seite gehen sie in Führung. Irgendwie landet der Ball vor dem links nachrückenden Engländer, er verwandelt energisch.

Es ist Matty Chipchase, Frontmann, Songwriter, Kopf der Band, und auch auf dem Platz also vorn dabei, wenn auch nicht ganz der Spielführer, der er innerhalb der Band ist und wohl auch sein muß, wenn man sich mit sechs anderen auf eine Melodie oder einen Text oder ein Arrangement einigen soll. Wie das geht? »Ich schreibe die Songs und sage, wie sie gespielt werden, kein Problem.« Vielleicht weiß er ein kleines bißchen besser, wo vorne ist, als einziger der Sieben ist er Anhänger von Newcastle United, sonst sind sie alle Middlesbrough-Fans, das ist die nächste größere Stadt neben ihrem Heimatort Stockton-on-Tees.

Matty Chipchase
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Sie mögen seine Songs, offensichtlich, seine Statur macht ihn nicht zum Chef, er ist bei weitem der schmächtigste der sieben Rebellen und der einzige, bei dem der Aufdruck ihres Trikots »Birth, School, Stadium, Death« nicht wie die natürliche Biographie anmutet. Ohne seine schmalen Karotten-Jeans, Lederjacke und sein Sonnenbrille, die aussieht wie ein Geschenk von Götz Alsmann, wirkt er im Trikot eher wie ein Literaturstudent, der auch mitspielen darf. Aber mit dem Ball umgehen kann er, sie alle machen keine schlechte Figur. Ob sie viel Fußball spielen in ihrer Freizeit? »Wir trinken viel.« Spaß haben wollen sie, die Dinge geschehen lassen, das gilt auch für ihren heute eingeläuteten musikalischen Deutschland-Start, mal sehen, was kommt, »whatever will be will be.«

Ein Hauch von Barcelona

Ein weiteres Tor fällt, wieder für den Gastgeber, inzwischen steht es 2:1 für die Deutschen. Zurückgekämpft, Spiel gedreht, alles im Lot, wie immer bei wichtigen Spielen gegen England. Doch die Aufholjagd fordert ihren Tribut. »Halbzeit!«, fleht ein sichtlich pumpender Uhlmann in Richtung Schiedsrichter. Um seine Mitspieler ist es nicht ganz so schlimm bestellt. Es ist eine Art Betriebsmannschaft des Labels um Uhlmann und die Kettcar-Musiker Marcus Wiebusch und Reimer Burstorff, der Ex-Praktikant ist auch dabei und ein Azubi, dazu ein paar Freunde. Sie alle können die ganz kleine Revanche für Bloemfontein indes nicht verhindern.

Stattdessen weht ein ganz kleiner Hauchs von Barcelona 1999 über den Kleinfeldkunstrasen des Polizeisportvereins, als kurz vor der Halbzeit eine Ecke der Engländer nach, sagen wir, nicht ganz optimal geglückter Torwartaktion auch noch per Eigentor zum 2:2-Ausgleich führt, den diesmal auch der Schiedsrichter nicht übersieht. Wiebusch wird den Treffer noch eine halbe Stunde nach Abpfiff nicht ganz verwunden haben und als »demoralisierenden« Tiefpunkt es Spiels deuten.

Aber er wird sich auch erfreut darüber zeigen, daß »fußballerisch was ging«, und sich die Engländer nicht als Bolzbanausen entpuppt haben, so genau gewußt hätte man das ja nicht. Sie sind alles andere als das; hinzu kommt in der zweiten Hälfte offenbar eine leichte konditionelle Überlegenheit, zeitweise beherrschen sie das Spiel, sogar vereinzelte Doppelpässe werden gesichtet, und als sie 3:2 in Führung gehen, ist es ein Tor, das Tom Bartels »logisch« nennen würde.

Gerackert haben sie jedenfalls dafür, sie nehmen das Spiel ernst, wie sie überhaupt bei allem Spaß ihre Ambitionen nicht vergessen. Es steckt eine Art unangestrengter Ehrgeiz in ihrem Auftreten, hier auf dem Platz und daneben, und nichts verdeutlicht das besser als die Anwesenheit von Dave Coombe. Er spielt Mundharmonika in der Band, nicht auch, sondern nur, er ist kein Virtuose am Gerät, aber auch kein »Gadget« (Uhlmann), sondern spielt »das halt in totaler Ernsthaftigkeit«, was dem Spaß keinen Abbruch tut, vielleicht gerade deshalb nicht.

Weil sich das nicht ausschließt, kann auch Matty Chipchase über die Bezeichnung als Musiker lachen – man beherrsche ja nicht einmal die Instrumente und wolle einfach Spaß auf der Bühne haben – und trotzdem von »fünf großartigen Alben« in den nächsten Jahren träumen und davon, eine Spur zu hinterlassen als Band. Und deshalb können sie sich einen Riesenspaß daraus machen, das kleine Spiel ernst zu nehmen.

Die Partie ist fast aus, es läuft die vehemente Schlußoffensive der Deutschen, allein fünf Mal kracht der Ball ans Aluminium, zwischendurch setzt Wiebusch noch einen knapp drüber. Nichts davon kann Torwart Parmley erschüttern, bei jedem Ball, der neben ihm an den Pfosten knallt oder knapp vorbeigeht, hebt er so selbstverständlich die Hände zur Entwarnung, als hätte er das schon beim Schuß gesehen, die letzte deutsche Chance vereitelt er reaktionsstark. Abpfiff. Ein zünftiger Jubelschrei von den Engländern, Applaus von den Zuschauern.

Am Ende strahlen alle. Die Engländer, weil sie gewonnen haben, die Deutschen, weil sie Spaß hatten, und Thees Uhlmann wahrscheinlich auch, weil es vorbei ist. Gleich ist dritte Halbzeit, oben, auf dem Dach des Hamburger Medienbunkers. Dann geht der Spaß auf der Bühne weiter.


(Ein bißchen mehr Worte und ein bißchen weniger Patzer als in der »11 Freunde«-Version.)


Nachtrag 11. August: Viele, viele Bilder vom Geschehen sowie ein paar Sachinformationen, die hier verschwiegen wurden, findet man bei Doreen Reichmann.

12.07.2010

Die offizielle WM-Elf

Benaglio1

Maicon2  Piqué3  Friedrich4  van Bronckhorst5

Schweinsteiger6

Müller7    Xavi8    Iniesta9

Messi10        
        Forlán11


1) Von den meisten bereits wieder vergessen, weil für seine Mannschaft nach der Vorrunde schon Schluß war, was aber definitiv nicht seine Schuld war. In nur 270 gespielten Minuten gefühlte 280-mal sensationell gehalten. Daher Vorzug vor Titel-Torhüter Casillas.
2) Auch nicht schlechter als Sergio Ramos, dazu mit schönem Tor von der Grundlinie. Und: wenigstens ein Brasilianer drin damit.
3) Auch nicht besser als Lucio, aber hier gilt ganz willkürlich dann doch das Erfolgsprinzip: Weltmeister schlägt Achtelfinalverlierer.
4) Bizarres Zwischenhoch nach Hertha und vor Wolfsburg. Großes Turnier inklusive noch größerer Szene gegen England, als er in Ronaldo-Messi-Zidane-Manier im Strafraum klärte.
5) Quotenholländer, weil sich hier sonst keiner aufdrängt. Fachlich immerhin gerechtfertigt durch seine Erfahrung, emotional durch sein Tor im Halbfinale, und ansonsten durch den Top-Namen.
6) Klar. Bei uns allerdings als Solo-Sechs, da wir dem Offensivgeist das Wort reden. Stichworte Gegner einschnüren, laufen lassen, Spiel aufzwingen.
7) Dito. Wer Argumente braucht: (1) Goldener Schuh. (2) Schnörkelloser Zug zum Tor. (Bonusargument: Erfrischend authentischer und unbekloppter Torjubel.)
8) Ohne Worte.
9) Gern hätten wir die Elf ja etwas internationaler gestaltet, aber wer um Himmels Willen war denn besser? Außerdem können wir auf das blindtaubstumme Verständnis mit Xavi hinweisen und an dieser Stelle endlich die These einflechten, dass die spanischen Hammer-Paßgeber natürlich auch davon leben, daß sie gleichzeitig Hammer-Paß(an)nehmer sind. Wenn Xavi beim VfL Bochum Xavi-Pässe spielen würde, würden die schon gar nicht mehr wie Xavi-Pässe aussehen, sondern so, als würde ein schwarzhaariger Heißsporn seine Mitspieler abschießen. Deswegen sollte hier keiner vom VfL Bochum spielen. Sondern Iniesta.
10) Ist trotz fehlenden Treffers dabei, weil er zum einen auch so ziemlich gut war, zum anderen in dieser Elf noch viel besser wäre. Und weil er Lionel Messi ist. Gottes Stellvertreter auf dem Spielfeld. Kein Mensch lässt den draußen, wenn er ihn im Kader hat, selbst wenn der Kader die ganze Welt ist.
11) Setzt sich durch gegen David Villa, der zwar zwei der in ihrer Eigenart sehenswertesten Tore gemacht hat (Bogenlampe & Billard) und überhaupt meistens dort ist, wo er sein soll, aber es greift (a) der Uruguay-Underdog-Kampfesmut- und (b) der Kein-Spanier-sein-Faktor.

05.06.2010

Rudelgucken

Gefällt mir! Das möchte ich ...

Hahaha. Ich möchte ja wirklich mal wissen, was sich ein Engländer oder Amerikaner denkt, wenn hier jetzt alle wieder zum »Public Viewing« gehen. Hast Du gewußt, daß im Englischen eigentlich nur öffentliche Totenschauen damit gemeint sind? Und hier denken alle, sie sprächen so weltgewandt, dabei ist das doch total bizarr!

So ungefähr klingt es, wenn die nun auch im Nachbarbüro (und anderswo) angekommene These vertreten wird, englische Muttersprachler würden aus dem genannten Grund entweder zusammenzucken oder sich schlapplachen, wenn irgendwo in der nicht-englischsprachigen Welt Menschen zum »Public Viewing« beliebter Ereignisse sich versammeln. Das Wort »Pseudoanglizismus« fällt.

Eigentlich wurde dazu vor ziemlich genau zwei Jahren im Bremer Sprachblog* schon alles gesagt:

Interessant an dieser Meldung ist aber die Behauptung, der Begriff Public Viewing sei ein "Scheinanglizismus" mit dem englische Muttersprachler "die öffentliche Aufbahrung von Toten" bezeichneten. Diese Interpretation des Begriffs ist mir zwar vertraut, aber es ist nicht unbedingt die erste, und mit Sicherheit nicht die einzige Bedeutung, die mir in den Sinn kommt. Viel häufiger ist im englischen Sprachraum die Bedeutung "Akteneinsicht durch die Öffentlichkeit", aber auch jede andere Art von Ereignis, bei der es öffentlich etwas zu sehen gibt, kann im Englischen mit public viewing bezeichnet werden – etwa öffentliche Theater- und Filmvorführungen, Vorführungen in Sternwarten, Kunstausstellungen, und natürlich auch die Übertragung von Fußballspielen auf Großbildleinwänden.

Nun ist das Ärgerliche ja nicht, daß jemand Dinge behauptet, obwohl es schon vor zwei Jahren im Bremer Sprachblog ganz anders stand. Nicht jeder liest das Bremer Sprachblog; viele wissen nicht einmal, was Blogs sind. Manche kennen noch nicht einmal Bremen. Außerdem ist natürlich das Zitierte zunächst auch nur eine Behauptung, und man muß selbst Sprachwissenschaftlern, die über Sprache reden, nicht automatisch alles glauben.

Nein, ärgerlich daran ist, daß man kuriose Thesen verbreitet, obwohl es so himmelschreiend leicht ist, sich binnen weniger Sekunden selbst und ganz allein vom Gegenteil zu überzeugen. Man muß noch nicht einmal richtig googeln. Es genügt schon, den Begriff in die Suchmaske einzugeben, um sich anhand der erscheinenden Suchvorschläge zumindest einen ersten Überblick über populäre Verwendungen zu verschaffen.

Zum Beispiel bei der britischen Google-Variante:

Suchvorschläge für »public viewing«

Ein einziger dieser Vorschläge, der letzte, hat unmittelbar etwas mit der Bedeutung »öffentliche Aufbahrung eines Toten« zu tun: Der Musiker Teddy Pendergrass starb Anfang dieses Jahres, und da sechs Platin-Alben in der Regel weder zur Anonymität noch zur Unbeliebtheit beitragen, gab es sicher viele Menschen, die beim public viewing noch einmal einen letzten Blick auf den Mann werfen wollten. Das schlägt sich auch in den Suchanfragen nieder, sei es, daß man vor Ort dabeisein möchte, sei es, daß man nach Fotos von dem Ereignis sucht.

Genauso hat das Erscheinen der darüber genannten Vorschläge seine Gründe. Viele gute Gründe. Der Grund allerdings, als nativ Englischsprachiger kenne man public viewing ausschließlich als öffentliche Leichenschau, dürfte wohl nicht darunter sein. Wenn man davon ausgeht, daß Google für diese Vorschläge die Häufigkeit bisheriger Suchanfragen und die Anzahl der jeweils zu erwartenden Ergebnisse zugrundelegt, scheint die Verwendung des Begriffs für leichnamfreie Situationen auch im englischen Sprachraum alles andere als unüblich zu sein. Ein ähnliches Bild liefert das amerikanische Google:

Suchvorschläge für »public viewing«

Erste Indizien sind natürlich nur erste Indizien, und das muß ja alles nichts heißen. Allerdings ist es keineswegs eine Vermessenheit, zu behaupten, daß auch durch tatsächliches Absenden der Suchanfrage die zuvor erwähnten wenigen Sekunden nicht überschritten werden, die ausreichen, den Sachverhalt doch einmal zu prüfen. Man erfährt Erstaunliches. Von überall auf der Welt:

»Spectators cheer during the public viewing of the performance of German singer Lena Meyer-Landrut at the Eurovision Song Contests in Hanover, northern Germany on May 29, 2010.«
(Kanada)

*

»That will continue over the next 12 weeks with public viewing of the designs available on Wednesday, 30 June at the new Marine Skills Centre at the Nautical College, and Buchanan Galleries shopping centre on Thursday, 1 July with opportunities for the public to give feedback and comment on the plans before they are submitted.«
(Schottland)

*

»The public viewing of the house is a part of the exhibition, Hendrix in Britain, which showcases handwritten lyrics, clothing, and other Hendrix paraphernalia.«
(USA)

*

»To ensure that people from KwaZulu-Natal are able to enjoy the World Cup, the provincial government has spent at least R80 million on public viewing areas (PVAs).«
(Südafrika)

*

»Just to let everyone know, public viewing nights are held every first Friday of the month. Clear or cloudy nights the public viewing night goes ahead.«
(Australien)

*

»A major piece of Canadian history is available for public viewing in Thunder Bay starting today.«
(Kanada)

*

»First public viewing of Halo 3: ODST«
(England)

*


Auch das muß man natürlich alles nicht glauben. Auch weiterhin kann man sich an seinem Sprachfundstück erfreuen und auf die blöden Anderen deuten.

Das entscheidet jeder selbst.


*) Inzwischen unter neuer Adresse: das Sprachlog


Nachtrag 8. Juni: Für »11 Freunde« noch mal ein bißchen umgemodelt.

Nachtrag 14. Juni: Der oben zitierte Anatol Stefanowitsch greift das Thema auch noch (zwei-)mal auf.

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