31.08.2009

Bebel vs. Lennon

Oder: Wie wir die Demokratie gef***t haben.
Ein Gastbeitrag von Stefan Wedler


Bei der Lektüre eines Artikels über meine ehemalige Schule mußte ich daran denken, wie die zu ihrem heutigen Namen gekommen ist.

John-Lennon-Gymnasium.

Die hieß davor – also auch zu DDR-Zeiten schon – nämlich mal August-Bebel-Schule, und nach der Wende dann eine Weile August-Bebel-Gymnasium. Bis so etwa 1992. Die Demokratie war damals für Schüler wie Lehrer etwas neues und wurde – auf eine durchaus chaotische Weise – aber eben auch an der Schule eingeführt.

Das ging so, daß es Klassensprecher gab, die sich in der Schülervertretung versammelten. Daneben gab es eine Eltern- und eine Lehrervertretung; jedes dieser Gremien entsandte vier Abgeordnete in die Schulkonferenz, in der also jeweils vier Schüler, Lehrer und Eltern saßen und in den durch die Schule zu entscheidenden Fragen gleiche Stimmrechte innehatten.

Ich war damals Klassensprecher und Mitglied der erwähnten Schulkonferenz.

Eine der Fragen, über die die Schule selbst entscheiden konnte, war die ihres Namens. Man denkt ja vielleicht: August Bebel ist doch ok, ein altehrwürdiger Sozialdemokrat, gegen den man nichts haben kann – und es hatte auch niemand etwas gegen August Bebel. Im Gegenteil. Viele waren dafür, daß die Schule auch weiter seinen Namen trüge.

Aber es war auch die Zeit allgemeiner Veränderungen. Der Lehrkörper war ob der neuen Regeln verunsichert und die Schüler waren ob der neuen Freiheiten übermütig.

Also gab es – auch das war etwas neues – eine Projektwoche, in der die Schüler sich mit möglichen Namen für die Schule befassen und ihre Gründe dafür untermauern und die Argumente anschließend vortragen sollten. Daraufhin sollten die Schüler-, Lehrer- und Elternvertretungen jeweils für sich ihren Favoriten küren, und ihre Delegierten sollten schließlich in der Schulkonferenz über den Schulnamen abstimmen.

Es gab drei Vorschläge mit nennenswerter Unterstützung. Die Kunstlehrerin wollte Camille Claudel, die meisten wollten August Bebel und die linkslastigen Teile der Schülerschaft – wir galten nicht zu Unrecht als »Zeckenschule« – waren natürlich für John Lennon. Zum Abschluß der Projektwoche trugen die drei Fraktionen ihre Ansichten vor: Die Camille-Claudel-Befürworter erörterten das Werk der Künstlerin, die Bebel-Freunde beleuchteten sein politisches Wirken und die John-Lennon-Freunde sangen »Give Peace a Chance« auf der Bühne.

Die genauen Abstimmungsergebnisse der Eltern- und Lehrerkonferenz habe ich nicht mehr im Kopf. Ich weiß aber, daß Camille Claudel insgesamt durchfiel und es in der Schülervertretung ein Patt zwischen Bebel und Lennon gab. Es wurde beschlossen, daß von den vier Schülern in der Schulkonferenz zwei für John Lennon und zwei für August Bebel stimmen sollten.

In der betreffenden Sitzung der Schulkonferenz ging es hoch her, denn die Freunde des altehrwürdigen Namens sahen das Erbe eines großen Sozialdemokraten angegriffen, und die John-Lennon-Freunde wollten unbedingt die neue Zeit einführen. Beide Seiten liefen in der Diskussion zu großer Form auf. (Wir hatten in Geschichte und PW [»Politische Weltkunde«] mangels Unterrichtsstoff seit der Wende nichts anderes getan, als uns im Debattieren zu üben.)

Als es zur Abstimmung kam, zeichnete sich die Niederlage der John-Lennon-Fraktion ab: Es stand 7:5 für August Bebel. Lehrer- und Elternvertreter hatten nicht nach Maßgabe ihrer Gremien abgestimmt, sondern nach ihrer Privatmeinung.

Aber wir Schülervertreter waren berauscht von den neuen Möglichkeiten der Mitbestimmung. Wir wollten durchaus die Schule in »John-Lennon-Gymnasium« umbenennen. Unser Einfluß war uns wichtiger als die Demokratie, und das Votum der uns entsandt habenden Schülervertretung interessierte uns nur mäßig. Wir schnupperten Macht – nicht wir Schüler, sondern wir vier in der Schulkonferenz.

Ich behaupte, daß wir bewußt gehandelt haben, als wir begannen, irgendwann nachts um elf das Abstimmungsergebnis in Frage zu stellen – oder vielmehr die Abstimmung selbst. Und zwar mit der Begründung: Die Schülervertretung habe uns einen klaren Auftrag erteilt, wie wir abzustimmen hätten. Dem könnten wir uns nicht widersetzen. – Andrerseits aber hätten Lehrer und Eltern nach ihrer Privatmeinung abgestimmt, was man uns wegen der Gleichbehandlung nicht verweigern dürfte.

Als Lösung dieses Dilemmas propagierten wir, daß wir Schüler – offenbar die einzigen mit einem klaren Auftrag ihres Gremiums – jeder zwei Stimmen hätten, um sowohl dem Votum der Schülervertretung, als auch unserer Privatmeinung Rechnung zu tragen.

Ich weiß nicht, ob es die späte Stunde war, oder ob wir Lehrer und Eltern wirklich erfolgreich an die Wand geredet hatten – jedenfalls wurde die Abstimmung nach Mitternacht wiederholt, und diesmal hatten zwölf Leute plötzlich sechzehn Stimmen – Lehrer und Eltern jeweils eine und die Schüler jeweils zwei.

Das Blatt hatte sich gewendet, und es stand nun 9:7 für John Lennon.

Ich verstehe bis heute nicht, warum die Eltern- und Lehrervertretung sich diese absurde Begründung für den völlig abartigen Abstimmungsmodus – das genaue Gegenteil gleicher Wahlen – haben bieten lassen. Aber sie haben es geschluckt. Und wie Sie der Zeitung entnehmen können, heißt die Schule heute noch John-Lennon-Gymnasium.

Jedes mal, wenn die Schule in den Medien oder in Gesprächen erwähnt wird, muß ich an diese denkwürdige Übung in Demokratie denken. Dann lächle ich still in mich hinein und sage mir:

Das waren noch Zeiten, als die Demokratie noch ganz neu und weich und formbar war.

Herrliche Zeiten, als die Strukturen noch nicht verkrustet waren und es nichts als ein paar wortgewandte Gymnasiasten brauchte, um Erwachsenengremien zu überrumpeln und ehrwürdige Schulen nach suspekten Kiffern zu benennen.

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