10.11.2010

Aus dem Tagebuch eines Unkundigen

Heute bei Chagall gewesen. Mit Malerei kann ich nur sehr wenig anfangen, was über die grundlegendsten ästhetischen Kategorien (»Oh, hübsch« / »Bäh.«) hinausgeht; noch nie hat mich ein Bild nur annähernd so berührt oder fasziniert wie mich Texte, Songs oder auch Fotografien berühren oder faszinieren können.

Trotzdem gehe ich gern in Ausstellungen. Oder vielleicht gerade deshalb? Vielleicht ist es die Hoffnung, einmal von einem Gemälde umgehauen zu werden und darauf, daß sich eine Tür auftut in eine Welt, die mir bisher verschlossen ist. Kann auch sein, daß ich einfach die Atmosphäre mag: Ruhige Menschen stehen vor Wänden und verhalten sich still. Sehr angenehm. (Ein bißchen unterlaufen wird dies seit einiger Zeit allerdings durch die Audio-Führungen, bei denen man sich Informationen zu jedem Ausstellungsstück auf einem Kopfhörer aufsagen lassen kann. Vor allem ältere Menschen wirken damit unfreiwillig ein bißchen wie die Arschlöcher in der U-Bahn, nur daß aus ihren Lautsprechern keine Beats, sondern monotone Brabbeleien klingen. Man muß aber nachsichtig sein, wahrscheinlich sind sie wirklich schwerhörig. Oder sie wissen einfach nicht, wo man leiser dreht und trauen sich auch nicht zu fragen, weil sie dann womöglich als ahnungslose Vorgestrige behandelt werden, die simpelste Technik nicht begreifen.)

Chagall also. Keine Ahnung, was der so trieb, wer er war und was er wollte. Nicht einmal seinen Vornamen hätte ich vorher aus dem Stand aufsagen können, trotz der zahlreich und prominent aushängenden Plakate, die für die Ausstellung werben. (Marc.) Um nicht ganz unvorbereitet zu sein, den Wikipedia-Eintrag überflogen. Wie man wiederkehrende Motive in Chagall-Gemälden zu deuten habe: Nackte Brüste symbolisieren »sowohl Erotik als auch Fruchtbarkeit« und die Häuser seiner Heimatstadt Witebsk stehen für das »Heimatgefühl des Malers«. Das muß man natürlich wissen.

Finde vielleicht nicht genau diese, aber Erläuterungen im allgemeinen immer recht aufschlußreich; um zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, warum das Bild nun genau so aussieht, wofür Motive und Farben stehen können und warum die Straßenlaterne zwei Beine und Füße hat. Auch die im Filmraum gezeigte Dokumentation half. (Filmräume mit Endlosschleifen haben den Vorteil, daß man einfach irgendwann reingehen kann und sitzenbleibt, bis man wieder an der Stelle angelangt ist, an der man dazustieß. Nachteil: Es kommt auch ständig irgendwann jemand rein.)

Jedenfalls: gelungene Schau. Wieder (ein wenig) was gelernt. Aber wieder kein Bild dabei, daß mich sofort und vollständig umgehauen hat, ein paar immerhin haben mir wenigstens gut gefallen:

In der Dämmerung
Weiß nicht warum. Einfach der Gesamteindruck, vielleicht die Farben, das nicht Allzubunte, vielleicht ja doch die (zunächst gar nicht gesehene, aber möglicherweise unbewußt wahrgenommene) wandernde Straßenlaterne, die folgende Fragen aufwirft: Wohin geht sie? Warum geht sie dorthin? Und warum hat sie zwei Beine?

Die Hochzeitszeremonie
Thematisch nicht mein Fall, aber optisch großartig. Dieser blutrote Schleier über der ansonsten schwarz-weißen Szene.

Paar mit Ziege
Super Titel! Wieder die Farben. Daß eine junge Frau und ein alter Mann und eine Ziege sich in einer Situation befinden, die gleich den Rahmen des Jugendfreien zu verlassen scheint, ist sicher metaphorisch zu sehen.

Selbstportrait mit Pinseln
Erstens: sein Gesichtsausdruck. So selbstbwußt-verschmitzt. Zweitens: auch ein schöner Titel. Aus irgendeinem Grund finde ich die Erwähnung der Pinsel lustig.

[Straßenansicht mit Kirche, Titel vergessen]*
Schöne, fast idyllische Szene. Merkwürdig gemalter Himmel mit blauen Strichen auf dem Grundblau, wie durchgestrichen.

[Ansicht seiner Heimatstadt Witebsk, Titel vergessen]
Wahrscheinlich auch wegen der Nichtbuntheit, es dominiert das Grün.

Der Engelssturz
Dramatische Szene in dramatischen Farben, leicht düster, mag ich.


*) Das Bild ganz rechts auf der vorderen linken Wand.

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