28.09.2008

Egographie (2)

Der Rohfassung zweite Hälfte


Wir erinnern uns: Aufgrund seines Wesens und aufgrund des Wesens seiner Arbeit wird der Fotograf zum Psychopaten, wenn jemand den seinen nur annähernd ähnliche Bilder macht. Das würde gar nichts machen. Wenn da nicht noch eine andere Sache wäre ...


V
Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten, Anklänge, auch Nachahmungen oder Kopien – sind absolut unvermeidlich. Die Bezeichnungen weisen schon darauf hin: Es muß kein nahezu identisches Bild vorliegen, um vom Fotografen als Klau gebrandmarkt zu werden; auch ein mit anderen Schauspielern und leicht veränderter Geschichte gedrehtes Filmremake bleibt ein Remake. So auch in der Fotografie. Es geht um die im ersten Teil angeführte Grundidee. Dabei ist der Fotograf sehr streng. Nichts darf annähernd so aussehen wie sein eigenes Bild.

VI
Da beginnt der Ärger. Gewiß, die Welt ist groß und die Motive zahlreich. Doch so viele absolut grundverschiedene Ansichten, Perspektiven oder Situationen gibt es einfach nicht, als daß jedes Foto etwas noch nie Abgebildetes zeigen könnte. Denn: jeder noch so detailreiche Ausschnitt wird im Auge des Betrachters zunächst immer auf seine Grundstruktur reduziert werden. Eine einsame Ranch bei Sonnenuntergang mit einer rechts im Bild befindlichen Silhouette eines Pferdes ist insofern das gleiche wie ein vereinzelt herumstehender Wohnkubus bei Sonnenaufgang, wo links im Bild der Umriß eines Fahrrads erkennbar ist.
Wie im richtigen Leben: Noch die größte Vielfalt kann man auf eine überschaubare Zahl von Gattungen, Arten und dergleichen reduzieren. Wenn man sich dann – in der Fotografie – nur auf die interessanten beschränkt, dann war das noch nie gesehene Lichtbild schon bald nach der Verbreitung der Fotografie kaum mehr möglich. Heute ist es das erst recht nicht mehr.

VII
Wenn der Fotograf auch seine Kollegen verabscheut, so betrachtet er doch gern und ausgiebig ihre Ergebnisse. Das ist gut. Es schärft den Blick für die vielfältigen Möglichkeiten der Fotografie, es regt den Geist an und erweitert den visuellen Horizont. Auch das – wenn man es in eigene Arbeiten einfließen läßt – ist Nachahmung. Es heißt nur anders: Inspiration.
Natürlich ist auch hier das Spektrum groß, sowohl im Grad, als auch in der Umsetzung. Man kann einfach nur Effekte eines bestimmten Objektivs bewundern und dann selber ganz andere Dinge damit ablichten. Man kann auf der anderen Seite ein gern gesehenes Bild originalgetreu nachzumachen versuchen – um herauszufinden, wie es entstanden ist und worauf man achten muß. Alles Inspiration. Alles gut. (Wenn man sich in gewissen Fällen bewußt bleibt und im Zweifel deutlich macht, woher die Idee kam.) Das ist die Umsetzung.
Auch der Grad kann variieren; von solcherart sehr bewußtem »Mitnehmen« von etwas Gesehenem bis zur unbewußt aufgenommenen, in eigene Fotos unmerklich einfließenden Gestaltungsvariante. Gerade letzteres zu verhindern ist völlig unmöglich – und auch nicht erstrebenswert. Irgendwann hat jemand zum erstenmal ein Portrait angeschnitten. Und nun? Tabu für alle Nachgeborenen? Hoffentlich nicht.

VIII
Unvermeidlich ist es wohl auch, daß mit wachsender Sensibilität für funktionierende gestalterische Regeln und visuelle Ideen auch sehr verschiedene Fotografen einen ähnlichen Blick entwickeln. Man geht mit ähnlichen Augen durch die Welt, es fallen einem ganz ähnliche Dinge auf – und irgendwann sitzt man da mit zwei ähnlichen Bildern und zeiht sich gegenseitig der Nachmacherei.
Surreale Lichtspiele auf einer Parkhauswand faszinieren den Fotografen aus Toronto ebenso wie seinen Mailänder Kollegen. Natürlich sind vielfältige Weisen denkbar, das dann einzufangen, aber manchmal werden die Ergebnisse eben auch sehr ähnlich sein. Es ist ein wenig wie in der Musik: Gewiß kann und soll man die Harmonieregeln auch brechen – aber sie bilden doch das fest abgesteckte, also begrenzte Terrain der Kunst. So albern es daher ist, über manche Ähnlichkeiten in manchen Songs zu streiten, so albern ist das auch in der Fotografie.
Ähnlichkeiten sind unvermeidlich.

Fazit
Der Fotograf ist ein egoistischer Eigenbrötler, der eifersüchtig über seine Ideen wacht, weil mit ihnen seine Arbeit steht und fällt. Sie sind alles, was er hat. Nachahmungen verurteilt er streng und ist bitterböse über Bilder, die seinen auch nur ansatzweise ähneln. Gleichzeitig sind solche Ähnlichkeiten absolut nicht zu vermeiden. Wir leben alle in derselben Welt. Auch Fotografen. Nur diese Welt können sie (mit meist sehr ähnlicher Technik) abbilden und folgen dabei meist und aus gutem Grund ähnlichen gestalterischen Grundregeln. Alle. Aber jeder für sich.
Das ist das Spannende.


Siehe auch: Egographie (1) »

24.09.2008

Weich & gemischt

Aus den Notizbüchern der anderen


Flokati - Klovati

© Fresia

23.09.2008

Die Selschreise

[...]
Das kann mir Max Goldt nicht vorwerfen. Da erzählt er in einem seiner Aufsätze von weitgereisten Leuten, wohin sie reisen und woher, und auf einmal fällt das Wort:

Eselschreisender

Was für ein Reisender? Ich grübele. Ich kombiniere. Ich zerlege das Wort gedanklich. eSelschreise? Sekunden der Hilflosigkeit. Bis mein Blick noch einmal den vorigen Absatz streift, der davon handelt, daß die Reisenden in ein Gespräch verwickelt wurden. Von einem Journalisten. Vom – ah! – Eselschrei-Sender. Glücksgefühle stellen sich ein.
(Eselschreisender? Eine Berliner Radiostation namens »1A«, die man aufgrund typographischer Schlampigkeit im Logo »IA« zu nennen lustig fand. I-A. Wie der Esel.)

Es ist ein wenig wie mit dem Betatier damals in der Zeitung. Den Privatier kannte ich. Auch Bankiers. Aber Betatiers? Was kennzeichnet den Betatier? Was macht er? Solange versuchte ich mir das herzuleiten, bis mir das griechische Alphabet wieder einfiel. Und daß es nicht nur Häuptlinge gibt. Und nicht nur Alpha-Tiere.
Das kann mir Max Goldt aber auch nicht vorwerfen.
[...]

17.09.2008

Definition

Imageproblem ist, wenn man jemandem mit der Kurzfrage »Kaugummi?« einen ebensolchen offeriert – und die so angesprochene Person sich ganz selbstverständlich auf die Suche nach einem macht, den sie hergeben könnte.

16.09.2008

Stillstand ist Fortschritt

Die Clipmitwirkendenkritik


Vor längerer Zeit wurde an dieser Stelle einmal behauptet, daß manch tastenorientierter Bühnenschaffende bei der Ausübung seiner Kunst durch übertriebene Körpersprache negativ auffällt. Oder kurz: Zappelnde Keyboarder nerven. Gewiß, auch das Gezappel anderer Instrumentalisten ist wenig ansehnlich, gleiches gilt für Sänger und auch für die Hörerschaft*; im Grunde sind überhaupt alle zappelnden Menschen abzulehnen. Vor allem aber Keyboarder.

Wenn Keyboarder zappeln, bildet das bauartbedingt oft wenig mobile Instrument, das sie währenddessen bearbeiten, einen so absurden Kontrast zu dem blöden Gehippel, daß dieses gleich noch viel affiger wirkt. Es ist peinlich anzusehen und nervt.

Jeder nichtblinde Bürger mit gesunder Zurechnungsfähigkeit wird dem beipflichten. Letzte Zweifel beseitigt auf ganz besonders eindrückliche Weise jener Mann, der in einer Band namens »Maximo Park« Mühe hat, seinem Instrument nicht davonzuhüpfen:

Maximo Park – »Our Velocity«

Achten Sie mal nur auf den Herrn hinter (manchmal: neben) dem Gerät mit den Tasten. Wenn es irgendwo eine Grenze gibt, zwischen In-der-Musik-aufgehen und affektiertem Ich-bin-Musiker-und-kann-nicht-anders, so hat er sie sehr weit hinter sich gelassen.

Immerhin weiß man, was er da soll. Er spielt ja mit. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Bisweilen springen auch Leute ganz ohne ersichtlichen Grund durch die Gegend, und man fragt sich: Wer ist der Mann? Was möchte er?

Im Video zu dem sehr gelungenen Stück »I Alone« der Gruppe »Live« bewegen sich merkwürdige Menschen in einer noch merkwürdigeren Kulisse. So weit, so noch in Ordnung. Sie musizieren dort. Nur einer nicht:

Live – »I Alone«

Einer hopst nur durchs Bild. Warum tut er das? Wo kommt er her? Warum blieb er nicht dort? Und wenn er schon mal da ist, warum hängt sich nicht einfach ein Instrument um? Oder stellt sich einfach rhythmusadäquat irgendwo hin?

Stillstand hat nicht nur Nachteile.


*) zappeln ≠ tanzen

10.09.2008

Urst fanti

›Urst‹ kennen die meisten. ›Urst‹ ist ostdeutsch für ›total‹ oder ›wahnsinnig/irre‹ im Sinne von ›sehr‹. Dös is ja urst deuer = Das ist ja wahnsinnig teuer. Außerdem ist ›urst‹ ziemlich bescheuert. Aus aktiven Wortschätzen gehört es gestrichen, denn es klingt einfach viel zu blöde. Beziehungsweise, es würde gestrichen gehören, wenn man nicht urst alberne Kombis damit bilden könnte.

Das muß jeder einsehen, der schon einmal dabei war, wenn eine Person angesichts einer schön beleuchteten, abendlichen Stadtszene ausrief, das sei ja urst romanti. Und das Schöne ist: Wenn man fertig gelacht hat, kann man auf diese Weise mit weiteren Schöpfungen das Erdentreiben bereichern. Zum Beispiel, wenn's später ganz dunkel ist. Urst schauri dann eigentlich. Und so weiter.

Urst spinni, das Ganze.

08.09.2008

Worte der Woche

Carrie, des Satans jüngste Tochter Karl Lagerfeld:

Rache macht mir ein physisches Vergnügen, am liebsten auf gemeine Weise. Ich weiß, daß sie furchtbar ist, aber ich sehe keinen Grund, warum ich Böses nicht zurückzahlen sollte. Wenn die Leute glauben, daß nun alles vergessen sei, ziehe ich ihnen den Stuhl weg – vielleicht erst nach zehn Jahren.

03.09.2008

Spectrum LM – »Visage«

Auf der großen Uhr auf der anderen Straßenseite verrinnen die Sekunden, die Minuten, die Stunden; 21:13h und 17 Sekunden zeigt sie, als er zwischen Zwielicht und Dunkelheit, irgendwo mitten in seiner Stadt, zwischen rauschendem Verkehr, zwischen fließenden Lichtern und weichen Schatten, zwischen wogenden Menschen, zwischen verschwommenen Umrissen und Stimmen – direkt in ihre Augen sieht. Sie sieht in seine Augen. Zufällig und flüchtig beide, doch dann, auf einmal, rast alles ohne sie weiter. Wie zwei gleichschnelle Kugeln in einem wirbelnden Roulettekreisel, die sich zueinander in perfekter Ruhe befinden, während um sie herum sich alles bewegt, kreist, dreht, stehen sie zwischen abertausenden Bewegungen und Lichtern und Leuten und Geräuschen, allem entkoppelt, eingeschlossen in diesen langen Blick. Sprachlos und regungslos. Als würde jede Bewegung, jedes Blinzeln, jedes Lächeln das Band trennen, halten sie sich fest an ihren Augen, an diesem verwirrenden Blick, gemeinsam ganz allein, ganz lange, ganz ...
Er spürt einen Stoß im Rücken, er taumelt. Menschen drängen an ihm vorbei. Er sieht wieder auf die andere Straßenseite. Nichts. Nichts mehr. Nirgendwo. Nur Umrisse, Lichter, Schatten, Rauschen. Und die große Uhr. 21:13h. Und 21 Sekunden.

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